Grenzerfahrungen im Tian Shan Gebirge

Text Ralf Brehl

Tian Shan, das Himmelsgebirge. Der Name wurde so locker in unsere vermeintlich weltgewandte Runde von befreundeten Bergsteigern geworfen, wie ein harmloses Steinchen ins Wasser. Und es folgten erste kleine Wellen: Tian Shan – ein schöner Klang für ein neues Ziel. Aber wo genau liegt dieses für den normalen Mitteleuropäer unbekannte Gebirge? Ein Blick in den Atlas ergab: In Zentralasien, ungefähr dort, wo sich auch Kirgisistan befindet. Oder heißt es Kirgistan oder Kirgisien?

Schon der korrekte Landesname gab Rätsel auf. Es sollten nicht die letzten sein. Genaue Karten? Fehlanzeige! Die dürftige allgemeine Literatur und Gespräche mit Landeskennern füllten allmählich unsere geistigen weißen Flecken. Im Tian Shan befindet sich einer der schönsten Berge der Erde und gleichzeitig der nördlichste Sieben-tausender, die gleichmäßige Pyramide des fast 7000 Meter hohen Khan Tengri. Er wird noch um einiges überragt durch den nicht weit entfernten mächtigen 7439 Meter hohen Pik Probeda mit seinem drei Kilometer langen Gipfelgrat. Beide sind die einzigen bekannteren Gipfel im Tian Shan. Hier findet man auch noch mit dem Issuk-Kul den zweitgrößten Gebirgssee und einige der längsten Gletscher der Erde. Die Kirgisen nennen den Zentralbereich des Tian Shan wegen seiner ausgeprägten Vergletscherung auch Mustagh, Eisgebirge. Die im Internet gefundenen wenigen Fotos von wilden Gipfeln und gigantischen Gletscherweiten ließen unsere Herzen höher schlagen. Sollten wir dieses Abenteuer tatsächlich wagen? Die Wellen des harmlosen Steinchens waren aber jetzt schon beträchtlich und hatten eine Eigendynamik. Für uns besonders interessant war die Tatsache, dass es im Herzen des Tian Shan, auf dem über 65 Kilometer langen Inylcheck-Gletscher, ein kirgisisches Basislager gibt. In der knappen Bergsteigersaison Juli und August bietet es mit seinen Zelten und Blechcontainern quasi eine Außenstelle der Zivilisation und eine gewisse Infrastruktur auf über 4100 Metern Höhe. Die Versorgung und die An- und Abreise von Bergsteigern wird fast ausschließlich mit alten russischen Helikoptern gewährleistet. Vor allen Dingen die eiligen Aspiranten für die beiden attraktiven hohen Gipfel Khan Tengri und Pik Probeda in unmittelbarer Nähe lassen sich so „bequem“ hochkatapultieren. Das kam für uns nicht in Frage. Ein verwegener Plan begann Besitz von uns zu ergreifen. Wir wollten von der letzten bewohnten Ortschaft am Randbereich ins Tian Shan Gebirge hineinwandern und über den mächtigen Gletscherstrom das Basislager erreichen. Die „Modegipfel“ links und rechts liegenlassend, wollten wir weiterziehen und ins Unbekannte vorstoßen zu den Sechstausendern, die nur darauf warteten, von uns erobert zu werden. Eine wahre Expedition, ein echtes Abenteuer – nicht buchbar in den diversen Katalogen der bekannten Reiseveranstalter. Soweit unsere ehrgeizigen Pläne…

Auch der längste Weg fängt immer mit dem ersten Schritt an und so haben wir das vielleicht, man sollte und könnte und unsere eigenen Zweifel überwunden. Anfang August sitzen wir sechs dann endlich in der engen altersschwachen Tupolew auf dem Weg nach Kirgisistan. Mit uns fliegt die Hoffnung, dass unsere technischen und organisatorischen Vorbereitungen am grünen Tisch auch nur halbwegs mit der Realität in Übereinstimmung zu bringen sind. Von der Hauptstadt Bishkek geht es in zwei Tagen mit einem alten Mercedes-Bus auf immer schlechter werdenden Straßen einmal quer durch das Land. Die holprige Fahrt führt vorbei am Issuk-Kul-See, 1600 Meter hoch gelegenen und 12 mal so groß wie der Bodensee und weiter hinein zu den ersten Ausläufern des Tian Shan Gebirges. Die Straße wird zur Piste und die verschwindet allmählich in immer größer werdenden Löchern. „Deutsche Autos, gute Autos“ kommentiert der Fahrer seine schlingernden Aus-weichmanöver und unsere besorgten Blicke. Aber irgendwann verläuft sich der Weg in der Steppe und wir kommen mit dem Fahrzeug keinen Meter mehr voran. In 2300 Metern Höhe bauen wir das erste Mal unsere Zelte auf. Hier beginnt unser langer Marsch durch eine wellige baumlose Graslandschaft. Gelegentlich tauchen in einiger Entfernung plötzlich große Pferdeherden auf, die genau so schnell auch wieder in der Weite verschwinden. Gerne nehmen wir die Einladung einer Nomadenfamilie zu einem Besuch in ihrer Jurte an. Für die nächsten Wochen wird dies der letzte Kontakt zu Einheimischen sein. Das landestypische Getränk aus vergorener Stutenmilch hinterlässt bei uns in vielfacher Hinsicht eine bleibende Erinnerung… Über Bäche und Flüsse einen Weg suchend geht es durch die unberührte Landschaft, die aussieht, als habe jemand grüne Matten über die Hügel gelegt. Nach ein paar Tagen leuchten am fernen Horizont über diese grünen Hügel wie Signaltürme die hohen Gipfel des Kernbereichs des Tian Shan Gebirges. Weiß und verlockend glitzernd markieren sie den allmählichen Übergang zur Hochgebirgslandschaft. Wir kommen unserem Ziel immer näher. Ein letzter Pass knapp über der 4000 Metergrenze muss überwunden werden und nach einer Woche stehen wir fasziniert vor dem mächtigen Gletschertor an der Zunge des Inylcheck- Gletschers. Im unteren Bereich ist der Eisstrom teilweise meterhoch mit Schutt bedeckt und so stolpern wir mehr, als das wir kontrolliert gehen können, drei Tage diese Geröllhalde hinauf. Vorbei geht es an dem mysteriösen Merzbacher See, einem natürlichen Gletscherstausee. Oder vielmehr an seinen bizarren Resten: Jetzt -Mitte August- liegen nur noch riesige Eisklumpen auf dem wasserlosen Grund. Regelmäßig jährlich Anfang August ergießen sich, einem ungeklärten Mechanismus folgend, seine über das Jahr angestauten Wassermassen durch den Gletscher in das darunter liegende Tal. Weiter geht es und endlich erblicken wir die kleine Zeltstadt des Basislagers am Fuß des Khan Tengris. Zu unserer Überraschung wartet dort tatsächlich schon unsere per Helikopter vorausgeschickte Berg-ausrüstung. Wir gönnen uns einen „Wellness“-Ruhetag auf 4100 Metern Höhe und verschwinden nur allzu gern in der zur Sauna umfunktionierten kleinen Blechhütte. Welch´ ein „Luxus“ an diesem Ort! Den Flüssigkeitsverlust gleichen wir reichlich mit einem höhenbedingt intensiv wirkenden isotonischen Getränk aus: gletscher-gekühlten russischen Gerstensaft. Wie meint doch der Leiter des Camps in gebrochenem Deutsch: „Von der Kehle direkt in den Kopf.“ Noch etwas lädiert davon verabschieden wir uns am nächsten Morgen in die Eiszeit. Bis hierher hatten wir die Unterstützung von Trägern einer kirgisischen Trekking-Agentur. Ab jetzt muss die gesamte Gletscher- und Hochlagerausrüstung und die Verpflegung für fast zwei Wochen von uns selbst getragen werden. Es wird eine kräftezehrende Plackerei mit unseren 30-Kilo-Rucksäcken. So weit es geht versuchen wir, uns den Gletscher hinaufzuarbeiten. Mitten auf dem Eis finden wir dann auch einen halbwegs geeigneten Platz für unser eigenes kleines Basislager. Der Höhenmesser zeigt 4420 Meter Höhe. Die chinesische Grenze liegt nur noch ungefähr sieben Kilometer Luftlinie entfernt. Um uns herum breitet sich ein wahrer Festsaal aus, mit atemberaubenden Blicken auf die uns umgebende Bergwelt. Hinter uns liegt eigentlich schon ein eigenständiges Abenteuer. Aber wir wollen ja mehr. Mindestens einem Sechstausender wollen wir auf´s Haupt spucken …

Das Wetter spielt mit und die nächsten Tage erkunden wir verschiedene Aufstiegsrouten. Aber alle Bemühungen enden immer mit dem gleichen ernüchternden Ergebnis: Wir kommen nicht wirklich höher, wir kommen noch nicht einmal voran. Der direkte Weg hinauf über eine vermeintlich sichere Bergflanke entpuppt sich als die steile Ausgabe eines, unter einer dicken Schneedecke verborgenen, Hänge-gletschers. Je höher wir kommen, um so stärker wird die Hangneigung, bis wir praktisch vor uns in den Schnee beißen könnten, ohne uns zu bücken. Die Lawinengefahr ist ständig präsent und es gibt praktisch keine Sicherungs-möglichkeiten mehr in diesem hüfthohen lockeren Schnee. Nach einer tages-füllenden Schinderei über Spalten und Eisbrüche bleibt uns knapp unterhalb der 5000 Metergrenze nur der geordnete Rückzug. In den nächsten Tagen probieren wir andere Wege und schöpfen alle Möglichkeiten aus. Selbst der Versuch, unseren begehrten Gipfeln auf dem Gletscher auch nur etwas näher zu kommen, scheitert an einem unüber-windlichen Spaltenlabyrinth. Zudem läuft uns die Zeit davon. Die Gipfel können wir uns abschminken. Was uns bleibt, ist eine letzte bescheidene Idee. Wir würden uns damit begnügen, einen Pass an der kirgisisch/chinesischen Grenze zu erreichen. Sehen können wir ihn. Er ist der tiefste Einschnitt inmitten der Eisriesen. Dazwischen allerdings liegt ein mindestens zweitägiger Marsch über einen der Gletscherströme, die sich hier aus allen Himmelsrichtungen herabwälzen. Aber was uns tatsächlich erwarten wird, wissen wir nicht.

Nach einer unruhigen Nacht packen wir unsere Sachen und machen uns gespannt auf den Weg. Schritt für Schritt tasten wir uns voran. Wie auf rohen Eiern schleichen wir vorsichtig und im Schneckentempo im Zickzack um die teils offenen Spalten herum. Wohl wissend, das wir nur die wenigsten Spalten tatsächlich auch ahnen, geschweige denn sehen können. Schon vormittags wird die Hitze der gleißenden Sonne unerträglich. Nachts, wenn der Gletscher unter unseren Zelten knirscht und kracht, messen wir bis zu minus 20 Grad. Tagsüber wissen wir nicht, wie heiß es ist, denn unser Thermometer zeigt nur bis maximal 50 Grad plus an. Der Schnee ist matschig und grundlos. Unsere Kräfte schwinden nicht nur wegen der schweren Rucksäcke und der Höhe von mittlerweile 4800 Metern. Immer wenn man plötzlich mit einem Ruck knietief einsinkt, weiß man nicht, ob es nur der nachgebende Schnee ist oder eine Spalte. Sarkastisch nennen wir diese prickelnde Erfahrung „Kirgisisches Roulette“. Wer Pech hat, fällt durch ein von ihm selbst getretenes dunkles Loch, bevor der Ruck des Seils ihn zumindest mit dem Oberkörper am Licht lässt. Dann hängt man mit den Beinen baumelnd über dem Abgrund, aus dem zu allem Überfluss auch noch gedämpft die Geräusche des irgendwo tief unten aufschlagenden Eises heraufdringen. Es ist ein Gefühl, als zöge einen der Gletscher in die Tiefe… Einige Male bleibt nur der Versuch des eigentlich Unmöglichen: Uns trotz des Bleigewichtes am Rücken, des tiefen Schnees und der Höhe mit Anlauf über eine besonders große Spalte regelrecht zu werfen. Immer hoffend, dass der Pickel am Spaltenrand greifen wird und die Seilpartner aufpassen. Der Spurende kämpft schwer schnaufend wie ein Asthmatiker um jeden Meter und die Abstände zwischen den Wechseln und den Pausen werden immer kürzer… Am frühen Nachmittag können wir nicht mehr. Heraufziehender Nebel erschwert zudem die Sicht und umgeben von einem heillosen Wirrwarr von Spalten suchen wir eine scheinbar sichere Stelle für unsere Zelte. Wir bauen unser Lager mitten auf dem Gletscher auf und fallen todmüde in unsere Schlafsäcke. Am nächsten Morgen weckt uns die Hitze der Sonne. Wir öffnen die Zelte und blicken vor uns in das gähnende Loch einer riesigen Spalte. Das war knapp. Wir hoffen, dass unsere Zelte nicht auf einer der vielen verdeckten Spalten stehen. Wir spüren überdeutlich, dass wir hier nicht in unseren „niedlichen“ Alpen sind. Dies ist ein Bollwerk gegen Bergsteiger. Gletscher-brüche mit canyonähnlichen Schluchten und Spalten, schwarz und unergründlich wie Tore ins Reich der Finsterniss. Steile Berge mit riesigen Hängegletschern, die drohend über unseren Köpfen zu schweben scheinen und aus denen dann und wann tonnenweise Schnee- und Eismassen herunterdonnern. Nun sind wir endlich am Fuß der Berge, die wir besteigen wollten. Wir sind am Ziel unserer Expedition angelangt aber auch gleichzeitig bei der Erkenntnis, dass sich dieses Ziel zwangsläufig schon verändert hat. Was von uns großspurig als Sechstausender-Expedition betitelt wurde, entwickelt sich tatsächlich zu einer kräfteraubenden Entdeckung und Erforschung unbekannten Gebietes, eine Reise in die Eiszeit. Im wahrsten Sinne des Wortes eben eine „Expedition“. Wir wollten es ja so …

Es folgt ein letzter Versuch, den Pass doch noch zu erreichen. Ohne schwere Rucksäcke mogeln wir uns am nächsten Tag an den vielen Hindernissen vorbei den Gletscher weiter hinauf. Quer über Spalten und durch den tiefen Schnee legen wir eine Spur, die uns einen „schnellen“ Vorstoß am nächsten Tag ermöglichen soll. Trotz des Schneckentempos kommen wir dem Pass schon erfreulich nah, bevor das Wetter sich verschlechtert und wir bei einsetzendem Schneefall wieder einmal den Rückzug antreten müssen. Wir finden gerade noch unsere drei kleinen Zelte, bevor alles in Dunkelheit und Schnee versinkt. Am nächsten Morgen bedeckt eine dicke Schneeschicht unsere Zelte und unsere mühselig getretene Spur ist verschwunden. Ausgelaugt und körperlich am Ende haben wir nicht mehr die Kraft, erneut eine Spur hinauf zu legen. Wie zum Hohn strahlt die Sonne jetzt unschuldig vom blauem Himmel und lacht uns kleine Menschen aus. Sogar die unnahbaren Berge scheinen uns versönlich gestimmt und haben ihr weißes Festkleid angezogen. Umgeben von einer atemberaubenden Winterlandschaft genehmigen wir uns einen Ruhetag. Wir schauen uns an. So wie wir aussehen, verweigert man uns sicher die Rückkehr nach Deutschland. Nach fast vier Wochen hat sich auf unserer Haut eine perfekte Schutzschicht aufgebaut. Ein Gemisch aus Schweiß, Staub und Sunblocker. Das zu entfernen wäre geradezu ungesund und schädlich. Wasser zum Trinken muss mühsam aus Schnee und Eis geschmolzen werden und ist zum Waschen zu kostbar. Es ist des Öfteren mit reichlich sandigen Ballaststoffen der umgebenden Berge oder sonst was durchsetzt. Peeling für den Magen/Darmtrakt. Unsere Kehlen sind ausgedörrt und verklebt, sodass sich kaum Flüssigkeit zum Schlucken findet. Zum Schlucken ist auch nicht viel da, ist doch unsere Verpflegung äußerst knapp kalkuliert. Mit den täglich 1500 Kalorien, die ich hier zu mir nehme, erreiche ich noch nicht einmal meinen Grundumsatz in Ruhe. Aber auch daran kann man sich gewöhnen. Genauso, wie an die Tatsache, dass wir wegen der uns umgebenden verdeckten Spalten in 10 Metern Entfernung vom Camp eine offene Spalte als luftiges Plumpsklo nutzen …

Nach den Anstrengungen der letzten Wochen haben wir jetzt Muße nachzudenken. Zeit für die Sinnfrage also, die jeder für sich angesichts aller Mühsal und Entbehrung beantworten muss. Gibt es Grund zur Enttäuschung wegen des Scheiterns unseres Ziels, irgendeinen Gipfel besteigen zu wollen und unserer Grenzerfahrung? Die Antwort ist eindeutig: Hier zu sein, inmitten dieses Gesamtkunstwerkes, ein kurzes Gastrecht genießen in diesem eiszeitlichem Naturwunder, das berührt tiefere Gefühle und Empfindungen, als so mancher Gipfeltriumpf. Das alles ist die pure Lust am Leben und bereichert uns um viele Eindrücke und Erfahrungen.

Erschöpft und doch glücklich machen wir uns auf den langen Weg zurück zum kirgisischen Basislager. Hier gibt es noch eine Übung in Geduld, weil uns wegen der anhaltenden Schneefälle der Helikopter erst kurz vor dem geplanten Rückflug nach Deutschland ausfliegen kann. Zurück lassen wir das beeindruckende Tian Shan, das Himmelsgebirge, in dem dafür gesorgt wurde, dass unsere Ziele nicht in den Himmel gewachsen sind und wir auf das menschliche Maß reduziert wurden.

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