Von Wegen über die Alpen..

Text: Ralf Brehl

Verrückte Ideen und Fantasien hat jeder einmal. Die meisten landen im gedanklichen Papierkorb. Diese Idee aber nicht und so sollten die Alpen zu Fuß vom Bodensee zum Gardasee überquert werden. Daraus wurde eine neue Entdeckung des Gebirges vor unserer Haustür. Erlebnisreich, anstrengend und mit einem aufdringlichen Begleiter: dem Regen.

Über mir ist der Himmel azurblau und die sauberen weißen Wölkchen strahlen mit der Sonne um die Wette. Im provozierenden Gegensatz dazu hänge ich verschwitzt und dreckig in einem sofaähnlichen Stuhl vor einem Ristorante und schlecke ein Eis. Vor mir breitet sich ein kitschig schönes Postkartenbild des Gardasees aus und um mich herum gibt es noch viel schönere Menschen. Der rechte Ort der Muße also, um zum Beispiel Vorsätze zu fassen wie diesen: Nie wieder so eine verrückte Idee,wie eine Alpenüberquerung! Wenn ich zukünftig den grauen Alltag mit einem schillernden bergsteigerischen Farbklecks aufhellen möchte und eine faszinierende Idee habe, schreibe ich sie auf Papier, zerknülle es und ab in den Papierkorb.

„Signore, scusi, woher kommen Sie?“ Der Ober mit dem frisch gebügelten weißen Hemd schaut mich mit offensichtlich mühsam unterdrücktem Missfallen an, als erwarte er zur Antwort, unter welcher Brücke ich die letzte Nacht zugebracht hätte. „Lago di Constanza“ versuche ich mit gespielter Gelassenheit wie so nebenbei fallen zu lassen, als sei es das Selbstverständlichste der Welt. „Ähh, scusi…?“ Ich erhöhe den Ungläubigkeitsfaktor in seinen Augen: „Zu Fuß vom Bodensee, 400 Kilometer in 18 Tagen!“ Recht hat er ja mit seiner zweifelnden Verblüffung. Zu Fuß zum Gardasee? Um Erkenntnisse für Vorsätze zu gewinnen?

Mit dem Lineal über die Alpen

In meinem Arbeitszimmer fängt alles an. Seit Jahren hängt an der Wand ein Riesenposter, ein Panoramarelief des gesamten Alpenbogens. Ideengeber und Planungsskizze für unzählige Zielbestimmungen: Highlights in Berggruppen und diversen Gipfeln. Im Laufe der Jahre vervollständigt sich das Mosaik des Gebirges im Herzen Europas. Was fehlt, ist eine Zusammenfassung der Mosaiksteinchen, um ein Gesamtbild zu erhalten. Eine ganzheitliche Annäherung an die unterschiedlichen Landschaften, Regionen, Berge, Kulturen und Menschen. Das Alpenrelief fordert geradezu nach einer Überquerung und lässt mir trotz meiner Zweifel keine Chance. Aber wie? München – Venedig? Auf schon vorhandenen Fernwanderwegen? Ist in diversen Katalogen von Reiseveranstaltern enthalten und buchbar! Es fehlt der Reiz des Neuen. Dann ist es klar und die Linie logisch, wie mit einem Lineal gezogen: Vom Bodensee zum Gardasee, zu Fuß und auf zusammengestückelten Wanderwegen. Die neue Entdeckung des Gebirges zwischen den zwei großen Seen an seinen Rändern:

Acht Gebirgsgruppen, die vier Länder Deutschland, Österreich, Schweiz und Italien, 400 Kilometer auf sieben Wanderkarten. Perfekt!

Große Überredungskünste bedarf es nicht und mein Freund Manfred ist als Partner dabei. Die langen Tage Ende Juli/Anfang August scheinen uns am besten geeignet – vermeintlich eine stabile Schönwetterzeit. Diese Einschätzung stellt sich nur in einem Punkt als zutreffend heraus: Stabil wird das Wetter, aber anders als wir hofften: Ergiebige Niederschlägen im gesamten Alpenraum erschweren unsere Tour.

Durch Schlamm und Kuhfladen

Folgerichtig geht es an einem verregneten Tag am Bodensee in Lindau los. Für den Fall, dass wir keine passende Hütte finden, haben wir in unsere Zwölfkilorucksäcke noch ein kleines Mini-Einpersonen-Zelt, Schlafsack und Matte hineingestopft. Motto: Entweder wird die Freundschaft vertieft oder es ist halt keine. Am ersten Tag haben wir schon unser erstes Erfolgserlebnis: Wir überqueren die deutsch-österreichische Grenze. Die folgenden drei Tage im Bregenzer Wald begleiten uns Nebel, Regen und die unvermeidlichen multinationalen Kühe mit ihrer Art des vertiefenden Wegebaus. In einer Soße aus schmierigem Lehm und Kuhfladen bewegen wir uns durch wald- und wiesenreiches Gelände. Unsere Schuhe und Hosen haben bald eine natürliche Imprägnierungsschicht. In der Stille des wabernden Nebels ist das Schmatzen der Schuhe im Schlamm oft stundenlang das einzige Geräusch. Wir pendeln uns so langsam ein auf täglich durchschnittlich 1500 Metern bergauf und 1500 bergab, 25 Kilometer Gehstrecke und 8 ¾ Stunden reine Gehzeit. „Wo wollt ihr denn hin?“ ist die oft gehörte Frage, die uns während der Tour begleiten soll und allmählich durch die Frage nach dem Woher abgelöst wird. Unsere Antwort ist oftmals der Schlüssel zum Herzen der Menschen und zu ihrer Hilfsbereitschaft. Ob aus Bewunderung oder Mitleid wissen wir nicht…

Bollwerke gegen Wanderer

Schnell lassen wir Damüls mit seinen vielen, im Sommer leer stehenden, Hotels hinter uns. Das sanft hügelige Landschaftsbild wird langsam „bergiger“, die intensive Almwirtschaft bleibt. In einem Tag geht`s quer durch`s Lechquellengebirge, hinunter nach Klösterle am Arlberg und schon sind wir in der Verwallgruppe. Die nördlichen Kalkalpen liegen nun hinter uns und wir bewegen uns fortan auf schieferigem Gneis. Das ständige Auf und Ab kostet Kraft. Warum überqueren wir nicht lieber den Himalaya, der im hoch“alpinen“ Bereich meist weniger als 100 Kilometer Breite misst und „bequeme“ Durchbruchtäler hat? Die Alpen dagegen sind auf unserer Wegstrecke über 200 Kilometer breit, mit Bergkämmen, die sich wie Bollwerke dem Wanderer entgegenstellen. Zudem spielt jetzt das Wetter Katz und Maus mit uns. Beginnt der Tag meist mit Sonnenschein, gibt es zum Nachmittag kräftige Erfrischungsduschen. Nach einigen engen und feuchten Zeltübernachtungen kriechen wir deshalb am fünften Tag bei Dauerregen zur Abwechslung in einer Alm unter. Unsere Antwort auf die Frage „Wo wollt ihr denn hin?“ hat einen reich gedeckten Tisch mit allerlei Leckereien und eine warme Dusche zur Folge. Danach sinken wir müde und dankbar in trockene Betten.

Kleines Essen – großer Preis

Weiter geht`s hinunter ins Paznauntal. In Galtür mit seinen neuen martialisch anmutenden Lawinenverbauungen stehen wir am Eingang zur Silvretta. Auf der Jamtalhütte erwartet uns genau das Gegenteil zu der gemütlichen Alm in der vergangenen Nacht. Eine „Hütte“ in über 2000 Meter Höhe mit Hotelcharakter, an deren Eingang uns zu unserer Überraschung ein himmelblauer Softeisautomat erwartet. Dankbar für das Dach über dem Kopf sind wir dennoch, können wir unser noch klatschnasses Zelt wieder eingepackt lassen. Der übliche nachmittägliche Dauerregen trägt sehr zu dieser pragmatischen Lösung bei.

Am nächsten Tag geht es hoch zum Futschöl-Pass auf 2768 Meter. Er ist weit und breit der einzige gletscherfreie Übergang in die Schweiz. Gehen, gehen, gehen, Kilometer um Kilometer „fressen“ wir in uns hinein. Eine Woche sind wir jetzt schon ununterbrochen unterwegs. Beine und Füße gehorchen automatisch. Spüren wir sie überhaupt noch? Manfreds Knie bringen sich schon mal mit warnenden Schmerzen in Erinnerung. Nach dem Pass geht es weit und lang hinunter ins Unterengadiner Inntal und wir machen unsere ersten Erfahrungen mit der teuren Schweiz. Ist es der heutige Nationalfeiertag oder sind es die hier üblichen Preise? Hungrig und durstig bestellen wir mittags in dem einzigen geöffneten Gasthof des kleinen schmucken Örtchens Ardez in froher Erwartung jeder einen großen Salatteller, eine große Graupensuppe und zwei große gespritzte Apfelsäfte. Wir bekommen tatsächlich einen großen Teller aber mit einem klitzekleinen Salat, der sich auf dem Tellermittelpunkt verliert und ein Spucknäpfchen Graupensüppchen. Danach bekommen wir aber wenigsten eine wirklich große Rechnung: 64 Franken (ca. 40 Euro). Als finanziellen Ausgleich landen wir am Abend – wieder wegen des Regens – in einem Kuhstall, in dem wir es uns „gemütlich“ machen.

Aufstieg, Abstieg, rauf und runter. Jeden Tag tut jetzt etwas anderes weh. Mal bildet sich aus unerfindlichen Gründen an einem Zeh urplötzlich eine Blase, mal drückt die Schulter, mal schmerzt tagelang ein Hacken und bei Manfred abwechselnd das linke oder rechte Knie. Die Landschaft entschädigt und die Schweiz verabschiedet sich kurz nach dem Ofenpass mit einem zauberhaften Blicken zurück ins Reich von Heidi. Wir erreichen das in Italien liegende Veltlin.

Italienisches Puzzle

Am mittlerweile 10.Tag müssen wir am oberhalb von Bormio liegenden Lago di San Giacomo einen Ruhetag einlegen und Manfred versucht, sein Knie zu besänftigen. Leider erfolglos. Nach gut 200 Kilometern trennen sich unsere Wege. Manfred macht sich per Bus und Bahn auf den Weg zurück zu unserem Auto in Lindau. Ich will trotzdem versuchen, den Gardasee zu erreichen und packe das Zelt und alles Überflüssige aus. Nun bin ich auf feste Übernachtungsmöglichkeiten angewiesen, aber deutlich schneller. Eine filmreife Abschiedsszene und nach der nächsten Biegung liegt nun die zweite Hälfte der Tour vor mir und ich bin allein. Als ob ich mir die Traurigkeit und den mitfühlenden Frust über Manfreds unfreiwillige Aufgabe aus dem Leib rennen will, spurte ich los. Ich bin erstaunt. Waren die zersiedelten Täler in Österreich fast ausschließlich vom Tourismus geprägt und die Orte in der Schweiz klein und fein, ändert sich das Gesicht der Dörfer in Italien abrupt. Kleine graue, schiefergedeckte Steinhäuser, und einfache, ärmliche Dorfstrukturen lassen auf den beschwerlichen Alltag der Bewohner schließen. Ziemlich erschöpft erreiche ich den nüchternen Ort Sondalo und finde in einem einfachen Gasthaus mein Nachtquartier.

Die folgenden Tage werden ein Puzzlespiel der Wegführung, wie so oft in Italien während der Tour. Beispiel: Die Ahnung einer Trampelspur zum Klohäuschen eines eingefallenen Bauernhauses entpuppt sich als der Einstieg zu „meinem“ Weg. Entgegen meiner Karte weder markiert, noch beschildert, geschweige denn begangen. Durch Gestrüpp behindert oder weglos bin ich darauf angewiesen, mich von meinen Intuitionen und Erfahrungen leiten zu lassen, um mein Ziel zu erreichen. Mehrmals gebe ich mich einfach den Zufall hin und vertraue meinem Glück, welches mich überraschenderweise auch nicht im Stich lässt.

Irrwege im Granit

Mein nächstes Ziel ist die wundersame Granitwelt der Adamellogruppe. Ich hatte schon viel gehört von diesen Bergen, die für deutsche Bergsteiger doch relativ unbekannt und weit entfernt sind. Ich bin gespannt. Doch auch hier macht mir die eigenwillige oder auch nicht vorhandene Wegführung einen Strich durch die Rechnung. Meine angespannte Motivation und mein Optimismus bekommen einen empfindlichen Dämpfer. An einem der wenigen Schönwettertage der Tour werde ich auf einen ungewollten Rundkurs geschickt. Der Tag beginnt am Rifugio Aviolo und endet zum Erstaunen der Wirtsleute für mich auch wieder dort. Mein nach der Karte geplanter Weg verliert sich nach anstrengenden 1000 Höhenmetern in einem Schotterbachbett im Nichts. Eine Alternative zu einem erhofften Passübergang entpuppt sich als Rundweg von und zur Hütte. Danach glaube ich meiner Karte nichts mehr und vergleiche sie zukünftig penibel mit den in den Hütten hängenden, meist zutreffenden, italienischen Karten.

So kann ich den nächsten Tag gehen und schauen ohne zu suchen. Natürliche Kletterwände an herrlich festem Gestein mit logischen Routen hinauf und fließende, stürzende Wasser herab aus den Gletscher- und Schneeregionen des Adamello- Zentralbereichs begleiten mich. Dazu eine Vielfalt an Pflanzen und Blumen – ein wahres Bergparadies.

Meditation im Regen

Ist das Wetter bisher schon bescheiden gewesen, so wird’s jetzt zunehmend wirklich kritisch. Die Berge verhüllen sich im Grau und der Himmel weint von nun an tagelang ununterbrochen. Ich stehe vor der Gewissensentscheidung: Abwettern oder ignorieren? Egal – ich will`s hinter mich bringen. Nicht der Weg ist jetzt das Ziel, sondern das Ziel selbst. Der Gardasee wartet und danach kann ich endlich die Beine hoch legen. Oben auf den fast 3000 Meter hohen Pässen liegt Neuschnee. Dank GoreTex bin ich erst nach zwei Stunden klatschnass – toll! Vorsichtig auf dem nassen Granit balancierend hoch, runter, hoch, runter. Alleine unterwegs sein, bedeutet jetzt erst recht: keinen Fehler machen, hochkonzentriertes Gehen ist angesagt! Zweifel bestimmen meine Gedanken: Ist bei dem Wetter der Gardasee noch zu erreichen? Regen, Graupel, Schnee. Am 16.Tag ändere ich meine Planung, verzichte auf weitere hohe Pässe und wähle zur Sicherheit eine Straße hinab ins nächste Tal und hinaus aus dem Hochgebirge des Adamello. Endloser Asphalt zieht sich von einem Staudamm dutzende von Kilometern kaum merklich 1000 Höhenmeter hinab. Der Regen trommelt ununterbrochen auf meine Regenkleidung, in die ich meditativ versinke und gehe und gehe und gehe …

In Bersone finde ich sehr beschwerlich ein Hotelzimmer, wo ich mich und alle meine Sachen endlich einmal trocknen kann. Ganz Italien ist im August in Urlaub, trotz Regen! So wie ich jetzt aussehe, würde ich mir allerdings auch keine Unterkunft mehr geben. Meine Hoffnung: Am Übergang zu den Gardaseebergen habe ich hier noch eine kleine Chance, die Tour fortsetzen zu können. Ängstliche Blicke zum Himmel. Ich brauche eigentlich nur noch zwei Tage, dann bin ich durch! Aber sintflutartige Regenfälle zwingen mir einen Tag Pause ab. Sollte ich so kurz vor dem Ziel scheitern?

Endlich am Gardasee

Am nächsten Morgen glaube ich an Wunder: Kaiserwetter! Der blankgeputzte Himmel strahlt mit der Sonne um die Wette. Los, los nur keine Zeit verlieren. Wie mit Siebenmeilenstiefeln eile ich durch die Landschaft und tauche ein in die lieblichen Gefilde der Gardaseeberge. Warme mediterrane Seidenluft und üppiges Grün empfangen mich. Die letzten 2000 Höhenmeter hinauf und 3000 Höhenmeter hinunter fliege ich. Keine Sekunde dieses schönen Wetters will ich ungenutzt lassen und entscheide mich für einen letzten Ein-Tages-Gewaltmarsch.

Nach insgesamt 18 Tagen erreiche ich total erschöpft endlich mein Ziel Riva und schicke das Plätschern des Gardasees durch mein Handy nach Hause. Schade, dass ich meine Freude nun nicht mit Manfred teilen kann. So muss ich allein den Vorsatz fassen: In Zukunft landen alle zweifelhaften berg- oder wandermäßigen Ideen sofort im Papierkorb!

Na ja, vielleicht doch nicht alle …

Für Statistiker:

400 Kilometer,
140 Stunden reine Gehzeit,
über 24.000 Meter
jeweils im Auf- und Abstieg,
16 Tourentage
(18 Tage gesamt, 2 Regentage),
Verschleiß von ein Paar Schuhen und
Verlust von 6 Kilogramm Körpergewicht
25 Kilometer,
8 ¾ Stunden Gehzeit,
1500 Meter jeweils im Auf- und Abstieg,
3 Liter Wasser, 2 Liter Apfelschorle und
? Liter Bier oder Rotwein

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